Das letzte Geleit

Das letzte GeleitVorsichtig stieg die alte Frau auf die unterste Stufe der Rolltreppe, die Hände fest an ihr Einkaufswägelchen geklammert. Erik, ihr Sohn, hatte ihr die rosenbedruckte Scheußlichkeit zu ihrem vierundachtzigsten Geburtstag geschenkt. Inzwischen musste sie widerwillig zugeben, dass das Gerät für ihre müden Knochen bequemer war als der verschlissene Rucksack, den sie so lange für ihre Einkäufe benutzt hatte.   Als die Rolltreppe sie dreißig Sekunden später in den Sonnenschein am Jungfernstieg spuckte, atmete sie unwillkürlich auf. Unter der Erde war ihr stets beklommen zu Mute – wie so vielen Menschen ihrer Generation. Zu viele Nächte hatte sie in Kellerlöchern und Bunkern ausgeharrt, während über ihr der Luftkrieg tobte. Nach dem Zwielicht des U-Bahn-Schachts kniff sie die Augen zusammen.

Es war ein strahlender Wintertag. Ein kräftiger Wind ließ die internationalen Flaggen am Alsteranleger im Wind knattern. Statt der hohen Wasserfontäne, die sonst in der Mitte der Binnenalster Kapriolen schlug, stand dort ein riesiger, illuminierter Christbaum.   Tief sog sie die kühle Luft in ihre erschöpften Lungen. Sie schmeckte nach Teer und Salz, die der Wind vom nahen Hafen herüber blies. Hanseatenwind, dachte sie. Sie war seit einer Ewigkeit nicht mehr in der Innenstadt gewesen. Spontan beschloss sie, einen Kaffee im Alsterpavillon zu trinken. Auf der Terrasse trotzten bereits zahlreiche, mit Wolldecken ausgerüstete Gäste der Jahreszeit. In ihrer Jugend wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, im Winter draußen Kaffee zu trinken. In ihrer Jugend hatte es aber auch keine zentralbeheizten Wohnungen mit Thermoverglasung gegeben. Und erst recht keine Heizstrahler auf Restaurantterrassen.   Die Bedienung war jung, hübsch und gelangweilt. „Latte, Cappuccino, Espresso“, spulte sie die Liste der angebotenen schicken Kaffeespezialitäten herunter. „Ein Kännchen Filterkaffee, bitte“, bestellte die alte Frau unbeeindruckt und ließ den Blick über die anderen Besucher schweifen.

Wie vor siebzig Jahren war das Publikum auch heute bunt gemischt. Damals hatte an dieser Stelle noch ein prunkvoller Jugendstilbau mit Spitzdach gestanden. Als junges Mädchen hatte Anna hier viel Zeit verbracht. Der Alsterpavillon hatte als eines der letzten Caféhäuser noch eine Swingband beschäftigt. Die „Negermusik“ war den Nazis verhasst gewesen und hatte dem Café den Namen „Judenaquarium“ eingebracht. Die alte Frau erinnerte sich noch gut an einen Abend, als eine Horde älterer Hitlerbengel in den Pavillon eingedrungen war. Systematisch hatte die Bande die Leinentücher von den Tischen gezerrt und so innerhalb kürzester Zeit eine Schneise der Verwüstung durch das Lokal geschlagen. Gäste und Personal hatten schreckensstarr ausgeharrt, bis auf den Saxofonisten, der ungerührt weiterspielte. Zu ihrer Verblüffung gingen die Burschen nicht auf ihn los, sondern begnügten sich damit, vor ihm auf den Boden zu spucken. Dass sie nicht einmal betrunken waren, machte die brutale Aktion noch erschreckender.

Heute saßen hier Geschäftsmänner mit gelockerter Krawatte vor der Glasfassade. Eine junge Mutter beschwichtigte ein greinendes Kleinkind mit Erdbeereis. Teenagermädchen rauchten lässig auf der Treppe zum Anleger der Alsterdampfer und versuchten so zu tun, als seien die Jungen nebenan Luft. Zwei Damen nippten an ihrem Tee. Ungefähr mein Alter, dachte die alte Frau, aber viel eleganter. Vergnügt blickte sie auf ihre ausgetretenen silbernen Turnschuhe aus dem Schlussverkauf hinunter. Aus schicken Kleidern hatte sie sich noch nie viel gemacht.

Am Tisch schräg gegenüber saß mit dem Rücken zu ihr allein ein älterer Herr – vielmehr ein alter Mann. Sie runzelte die Stirn. Er erinnerte sie vage an jemanden aus ihrer Jugendzeit. Ein Schauspieler? Unwillkürlich versuchte sie, sein Alter zu schätzen. Er schien schlank und hielt sich sehr aufrecht, doch der gebräunte Nacken unter der perfekt gestutzten Frisur war von tiefen Furchen durchzogen. Routiniert schlug er seine Zeitung zusammen und wandte sich zur Seite, um der Bedienung zu winken. Bis auf die hohen Geheimratsecken war sein schlohweißes Haar noch voll. Es war weniger das Profil als die gebieterische Geste, die Anna ins Mark traf. „Da hol mich doch der Teufel“, flüsterte sie tonlos. Die Weihnachtseinkäufe für ihre Enkelin waren vergessen. Der alte Mann, der nur drei Meter von ihr entfernt saß, war seit Jahrzehnten tot.

Lust, weiterzulesen? Klar gibt’s meine Krimis auch bei amazon. Aber wie wäre es, mal wieder in einen Buchladen um die Ecke zu schauen, so ganz old fashioned real-life? Da bekommt man Lesetipps, die nicht stromlinienförmig nach den letzten Käufen maßgeschneidert sind.

Z.B. bei meinem liebsten Münchner Bücherladen Glatteis. Oder der Hamburg-Wilhelmsburger Buchhandlung Lüdemann. Ach ja – E-Books kann man da natürlich auch kaufen :-).